Transcript of Original Letter

 

An: Kanonier Wertheimer, 1. rhein. Feld-Artl. Regt. 8, 1. Batterie

Von: Ldst. Raphael, Arm. Batl. 154, 1. Comp., Deutsche Feldpost 370

 

Den 4. Juli 1917

Mein lieber Wertheimer!

 

Ich werde wohl nicht besonders hervorheben müssen, daß Dein Brief mich sehr erfreut hat, zumal Du mich mit interessanten Neuigkeiten ja reichlich bedachtest. 

 

Ob ich Dir Gleiches mit Gleichem vergelten kann und Dir ebenso wissenswerte Nachrichten heute zu übermitteln imstande bin, weiß ich nicht.  Eine schlechte Feder und noch schlechtere Tinte werden zweifellos nicht viel dazu beitragen, Dir meine Zeilen angenehm zu machen.  Aber c’est la guerre!  Das ist ja das nichtssagende Trostwort dieser trostlosen Zeit.

 

Wie es mir geht?  Ich war ganz überrascht, liebster Freund, zu erfahren, daß Du in meiner Nähe liegst, wo sich auch Goldschmidts Onkel befindet, mit dem ich am ersten Schowuaustage beim Gttesdienst in einem nahen größeren Dorfe zusammentraf.  Du kannst Dir vielleicht die Freude des Wiedersehens vorstellen.

 

Mein Dienst ist in letzter Zeit etwas leichter geworden, nachden ich einem Wachkommando zugeteilt worden bin.  Froh kann man allerdings trotzdem nicht werden, wenn man sich erinnert, 7 Monate im Felde zu sein und noch immer keine Aussicht einen kurzen Urlaub zu erhalten; denn von zu Hause bin ich jetzt ja bald ein Jahr fort.  Nachdem ich nun das Pessach- und Schowuausfest in so ganz würdeloser Weise habe begehen müssen, wird das Heimweh und die Sehnsucht nur noch heisser und wilde, wehmütige Erinnerungen quälen nicht wenig in diesen wonnigen Sommertagen voller Sonnenschein und Blütenpracht.   Die Zeit der Rosen ist zwar vorüber.  Aber jetzt öffnen die dunklen, flüsternden Linden ihre berauschend duftenden Blütendolden, und wenn des Nachts ein milder Windhauch diesen Wonneduft, der nichts gemein hat mit dem Aroma der arabischen und indischen die Sinne aufpeitschenden Wohlgerüche, leise und geheimnisvoll herüberträgt, und wenn dann ganz in der Nähe in einem versteckten Holunderstrauch eine verspätete Nachtigall ihre klagenden Töneeine tieftraurige Molltonleiter – in die Stille hinaussendet, dann wird einem doch ganz eigenartig ums Herz und man denkt an längst vergangene Zeiten, die jetzt erst der erbitterten Seele so unendlich liebreizend erscheinen.  Bis dann wieder flackernde, grünliche Leuchtkugeln die schönen Träume zerreissen.  Man erinnert sich an die grausame Wirklichkeit.  Die Batterien brüllen wieder.  Dann hört man wieder die heransausenden feindlichen Granaten pfeifen und ihr jämmerlicher Gesang übertönt den der Nachtigall, und dann ist’s aus mit all den sentimentalen Gefühlen, die wohl in mancher stiller Stunde im Herzen erwachen und man wird wieder ernst und die Wut und Empörung erfüllen die Seele.

 

Wie lange soll dieser Zustand noch andauern, nachdem alle Welt so deutlich sieht, daß Kriege überhaupt nicht mehr Machtstellungen und Vorherrschaften entscheiden können.  Der bekannte politische Mitarbeiter des “B.T.” Wolfgang Heine, hat ja alle bürgerlichen Parteien aufgefordert, einenVolksbund für einen Frieden der Verständigung  zu gründen  Alles schöne Gedanken,- aber…”

 

Gehab Dich wohl und schreibe wieder Deinem Dich grüßenden Freunde Raphael

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Jacob (Jack) Raphael (mein Vater), geb. Posen 1897, gest. Ramat Gan 1971.